Polio

Die Polio, auch Poliomyelitis, ist eine von Polioviren vorwiegend im Kindesalter hervorgerufene Infektionskrankheit. Sie befällt Motoneurone und kann zu schwerwiegenden, bleibenden Lähmungen führen. Diese betreffen häufig die Extremitäten. Der Befall der Atemmuskulatur ist tödlich, dies führte zu den ersten maschinellen Beatmungsverfahren, der eisernen Lunge. Auch Jahre nach einer Infektion kann die Krankheit wieder auftreten.

Das Virus wird meist durch Schmierinfektion von Urin oder Stuhl übertragen, aber auch Tröpfcheninfektionen sind möglich. Es kann sich nur im Menschen und einigen Affenarten vermehren und nur von Mensch zu Mensch übertragen werden. Seit den 1950er Jahren sind Impfstoffe gegen Polio verfügbar. Die Erkrankungszahlen sind seitdem stark rückläufig. 

Vorkommen

Überwiegend sind Kinder im Alter von drei bis acht Jahren betroffen, nur gelegentlich erkranken auch Erwachsene. Für diese Viruserkrankung gibt es keine ursächliche Behandlung. Aufgrund der konsequenten Impfung gilt Polio heute in Deutschland offiziell als „ausgerottet“. Nach heutigen Erkenntnissen existierte Poliomyelitis bis 1880 als endemische Krankheit. Erst ab etwa 1880 trat diese Infektionskrankheit in epidemischer Form auf, die jährlich tausende Menschen betraf. Vor allem Kinder starben daran oder litten dauerhaft an körperliche Folgeschäden. 

Pathogenese

Das Poliovirus wird meist durch den Mund in den Körper aufgenommen und vermehrt sich anschließend im Darm. Von dort aus befällt es zunächst die lokalen Lymphknoten und verteilt sich nach Vermehrung über die Blutbahn. Dabei gelangt es als neurotropes Virus bevorzugt in diejenigen Nervenzellen im Vorderhorn des Rückenmarks (α-Motoneurone), die mit ihren Fortsätzen die quergestreifte Muskulatur erreichen und steuern. Als Reaktion auf die Infektion wandern körpereigene Abwehrzellen (Leukozyten) ins Rückenmark ein, wobei eine Entzündung die Nervenzellen letztlich zerstört. Die Folgen sind mehr oder weniger ausgeprägte, ungleichmäßig verteilte schlaffe Lähmungen, vorwiegend an den Beinen. Der Berührungssinn bleibt dabei erhalten.

Neben dem Befall des Rückenmarks ist bei der paralytischen Verlaufsform fast immer auch das Gehirn selbst mitbetroffen, so dass exakterweise von einer Poliomyeloencephalitis gesprochen werden müsste. Vor allem im Bereich des Kleinhirns, der Brücke und des verlängerten Marks treten regelmäßig Einwanderungen von Entzündungszellen und Nervenzelluntergänge auf. Diese führen aber nur selten zu eigenen Symptomen. Lediglich die den spinalen Vorderhornzellen analogen Neurone in den Hirnnervenkernen des IX. und X. Hirnnerven sind häufiger betroffen. Durch den Befall dieser Zellen kommt es zur gefürchteten bulbären Form, bei der die Kehlkopffunktion (Sprechen und Atmung) oder das Schlucken beeinträchtigt sein kann. Solche Lähmungen können schon innerhalb weniger Stunden nach Befall des Nervensystems auftreten.

Symptome

In rund 95 Prozent der Fälle verläuft die Infektion asymptomatisch, so dass auch von keinem Krankheitsverlauf gesprochen werden kann. Stattdessen kommt es, vom Infizierten unbemerkt, zur Bildung von Antikörpern und damit zu einer sogenannten stillen Feiung. Bei 4–8 % der Infizierten gibt es vorübergehende, unspezifischen Symptome.

Abortive Poliomyelitis

Nach einer Inkubationszeit von 6–9 Tagen kommt es zu einer etwa dreitägigen Erkrankung mit Fieber, Halsschmerzen, Abgeschlagenheit, oft Durchfall und Erbrechen. Bei mehr als drei Vierteln der Erkrankten heilt diese abortive Poliomyelitis folgenlos aus. Die Zellen des Zentralnervensystems (ZNS) werden dabei nicht infiziert. „Abortiv“ steht hierbei für „abgekürzt, abgeschwächt verlaufend“.

Infektion mit ZNS-Beteiligung

Bei etwa 5–10 Prozent der symptomatischen Patienten kommt es jedoch zu einer Beteiligung des Zentralnervensystems, bei der die oben geschilderten Symptome das Prodromalstadium (Vorstadium) der Erkrankung darstellen. Nach einer fieber- und beschwerdefreien Phase von etwa einer Woche entwickeln diese Patienten eine nichteitrige Hirnhautentzündung (aseptische Meningitis), bei der Lähmungen (Paralysen) der Muskulatur fehlen – als das Krankheitsbild einer nichtparalytischen Poliomyelitis darstellen. Diese Form der Hirnhautentzündung ist durch einen erneuten Fieberanstieg auf 39 °C, Kopfschmerzen und Nackensteifigkeit charakterisiert. Wird die Rückenmarksflüssigkeit untersucht, findet der Arzt darin eine Erhöhung der Zellzahl und eine geringe Erhöhung der Eiweißkonzentration.

Nur bei etwa 1 Prozent der Infizierten kommt es zur Entwicklung der paralytischen Poliomyelitis, der schwersten Form des Krankheitsbildes, die als „klassische Kinderlähmung“ gefürchtet wird. Dies kann auch nach einer fieber- und beschwerdefreien Latenzzeit von etwa 2–12 Tagen geschehen, in der sich die Symptome der Meningitis zunächst bessern, es somit zu einem zweiphasigen (biphasischen) Verlauf kommt. Charakteristisch für den plötzlichen Beginn der paralytischen Form ist eine „Morgenlähmung“ des noch am Vorabend gesunden Kindes. Die Lähmungen sind im Gegensatz zur spastischen Lähmung bei Schädigung der motorischen Hirnrinde oder der Pyramidenbahn schlaff, asymmetrisch verteilt, bevorzugen die Muskulatur der Oberschenkel und sind oft mit erheblichen Schmerzen verbunden. Wenn die zugehörigen Segmente des Rückenmarks beteiligt sind, können aber auch die Muskulatur von Rumpf, Zwischenrippenräumen, Harnblase, Mastdarm oder sogar das Zwerchfell betroffen sein. Viel seltener sind die Ursprungsgebiete der Hirnnerven betroffen. Bei dieser bulbären Form kommt es unter hohem Fieber zu Schluckstörungen oder Atem- und Kreislaufregulationsstörungen. Diese ernste Verlaufsform ist mit einer hohen Sterblichkeit belastet.

Spätkomplikationen

Normalerweise bilden sich die Symptome innerhalb eines Jahres zurück, jedoch können Lähmungen, Durchblutungs- und Hauternährungsstörungen als Dauerschaden zurückbleiben. Auch Gelenkschäden aufgrund der Lähmungen und der veränderten Statik wie Skoliose der Wirbelsäule und Fußdeformitäten stellen bleibende Beeinträchtigungen dar. Ein gebremstes Längenwachstum einzelner betroffener Extremitäten kann das Kind im Wachstum zum Invaliden machen. Nach Entfieberung ist zunächst kein weiteres Fortschreiten der Lähmungen zu erwarten. Teilweise erst Jahre oder Jahrzehnte nach der Infektion tritt aber noch das Post-Poliomyelitis-Syndrom als Spätfolge auf. Dessen Symptome zeigen sich in extremer Müdigkeit, Muskelschmerzen und Muskelschwund in neuen und früher schon betroffenen Muskeln, Atem- und Schluckbeschwerden. Diese Spätkomplikation scheint eher die Regel als die Ausnahme zu sein.

Diagnostik

Klinisch lenkt der doppelgipfelige Fieberverlauf spätestens beim Auftreten der Lähmungen den Verdacht auf das Vorliegen einer Poliomyelitis. Das Virus kann aus dem Stuhl, aus Rachenspülwasser und aus dem Hirnwasser angezüchtet werden. Auch der molekularbiologische Nachweis von Virus-Erbinformation (RNA) mittels der Polymerase-Kettenreaktion (PCR) ist möglich. Bei fehlendem Erregernachweis können im Serum spezifische Antikörper gegen die Polioviren die Diagnose absichern.

Differentialdiagnose

Während der ersten Krankheitsphase muss die Poliomyelitis gegen alle fieberhaften Infektionen durch andere Erreger abgegrenzt werden. Symptome einer Meningitis, auch mit auftretenden Lähmungen, können auch durch andere Erreger der Gruppe der Enteroviren wie Coxsackie- und Echoviren sowie die Frühsommermeningoenzephalitis verursacht werden. 

Therapie

Da keine ursächliche antivirale Therapie existiert, beschränkt sich die Behandlung auf symptomatische Maßnahmen. Dazu gehören Bettruhe mit Sicherstellung einer sorgfältigen Pflege, korrekte Lagerung und physikalische Therapie. Die auftretenden Schmerzen können außer durch Schmerzmittel und entzündungshemmende Mittel auch mit feuchtwarmen Packungen um die betroffenen Partien gelindert werden. Beim geringsten Verdacht auf das Vorliegen der bedrohlichen bulbären Verlaufsform mit Auftreten von Schluck- oder Atemstörungen muss frühzeitig eine intensivmedizinische Überwachung und Behandlung sichergestellt werden. Zur Nachbehandlung gehört neben einer angemessenen Krankengymnastik gegebenenfalls auch die Versorgung mit orthopädischen Hilfsmitteln. Dadurch kann noch bis zu zwei Jahre nach der akuten Erkrankung eine Verbesserung der Beweglichkeit erreicht werden.

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